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Unter dem Schlagwort der Lesesucht wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert die Debatte um falsche Lektüre und gefährliche Literatur geführt. Ein Anfang des Phänomens ist so schwer bestimmbar wie seine Kritik. Cervantes' Don Quixote spielte 1605 und 1613 sein satirisches Spiel mit der Romanversessenheit und Lesesucht seines Helden - eines Helden, der über dem Lesen von Romanen allen Kontakt zur Realität verlor.
Johann Friedrich Riederers "Satyra von den Liebes-Romanen" (Nürnberg, 1718) erlaubte es bereits, über die in allen Bevölkerungsschichten verbreitete Romanverliebtheit und Lesesucht zu lachen, Kaufmannslehrlinge versteckten Romane zwischen dem Arbeitszeug und lasen, sobald der Lehrer wegsah, das Hauspersonal fand schnell einen in der Runde, der vorlesen konnte, und lauschte, statt zu arbeiten. Der Begriff selbst wurde zum ersten Mal in Rudolph Heinrich Zobels Briefe über die Erziehung der Frauenzimmer 1773 notable. Als ein Jahr später mit dem Erscheinen des Werther das Wertherfieber losbrach, setzte eine heftige Debatte um den Nutzen und Schaden von Literatur, insbesondere schöner Literatur (immer im Verdacht des Trivialen) ein. Es prallen die Ansprüche der Aufklärung auf die Rezeptionshaltung der Empfindsamkeit.
Hauptangriffspunkt der Kritiker des Lesens war die "Vielleserei". Im Rahmen des expandierenden Buchmarkts würde der Leser nach immer mehr Lesematerial verlangen. Das Gelesene werde nicht reflektiert, sondern nur verschlungen und bliebe unverdaut im Geiste des Rezipienten hängen (man vergleiche mit dem Vokabular der Diätetik). Resultat sei geistige Schlaffheit, Unfähigkeit zu logischem Denken und Unwille zum Gebrauch des Verstandes. Nur noch Unterhaltung, nicht Nutzen interessiere den Leser.
Der süchtige Leser "blümele", d. h. er neige zu Stellenlektüre und nehme einen Text nicht als Ganzes wahr. Er verstärke so die in ihm wohnenden Vorurteile und öffne sich nicht neuer Gedankenfelder. Durch das Einfühlen in fremde/fiktionale Welten verliere der empfindsame Leser den Sinn für die Realität, welche ihm fad, langweilig, anstrengend vorkäme. Er vernachlässige und vergesse seine Pflichten und werde unfähig zur Sicherung seiner ökonomischen Existenz und der seiner Angehörigen.
Als von der "Lesesucht" bedroht wurden v. a. Frauen und Jugendliche angesehen. Dies hat mehrere Gründe: während Männer eher zu Lektüre griffen, welche ihre beruflichen Felder betraf (v. a. Zeitungen und Zeitschriften), neigten Frauen und Jugendliche zu schöner Literatur. Gleichzeitig seien diese von ihrem Gemüt prädestiniert, sich in wahnhaften, aber unwirklichen Welten zu verlieren.
Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache. Bd.3. Braunschweig, 1809
Johachim Koppder Memorien
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