Internetsüchte: Games, Chat und Sex im Visier

Die grenzenlosen Möglichkeiten des Internets werden auch für die Psychotherapie relevant - nämlich dann, wenn seine Nutzung außer Kontrolle gerät. Die Wissenschaft ist sich in der Bewertung von suchtartigem Spielen, Chatten und Pornografie im Internet noch uneins.

In Wien widmet sich diesen Samstag erstmals im deutschen Sprachraum eine Fachtagung dem Thema, wobei der Schwerpunkt auf der Internetsexsucht liegt. "400.000 Menschen in Deutschland und 40.000 in Österreich dürften davon betroffen sein", so Tagungsveranstalter Raphael Bonelli.

Suchtartiges Surfen schwer zu beurteilen

Die Wissenschaft ringt derzeit hart damit, wie suchtartiges Internetsurfen eingeordnet werden soll. Der US-Psychiater Jerald J. Block geht etwa davon aus, dass der Internetgebrauch drei krankhafte Untertypen hervorrufen kann, nämlich suchtartiges Online-Gaming, exzessives Chatten bzw. E-Mail-Schreiben sowie auch die Internet-Sexsucht. Wie dem deutschen Ärzteblatt entnehmen ist, scheint die Internetsucht aber noch nicht im Erstentwurf der 2013 erscheinenden Neuauflage des Handbuches Psychischer Störungen DSM-5 auf. Der Forschungsstand dazu sei noch nicht ausreichend, so die Begründung.

Was zwanghaftes Gaming, Chat und Sex im Internet eint, sind jedenfalls erstens die ausschweifende Internetnutzung mit Verlust des Zeitgefühls, wobei Essens-, Trink- und Schlafbedürfnisse oft ignoriert werden. Alle drei Verhaltensweisen liefern typische Entzugssymptome wie Spannung, Ärger oder depressive Stimmungen, sobald der Computer nicht erreichbar ist, und schließlich auch das Verlangen nach ständig mehr Computerzeit und besserer Ausstattung mit Hard- und Software. Letztlich wirken alle auch negativ auf soziale Beziehungen.

Dunkle Seiten von Sex noch Tabu

Während sich die Forschung zur suchtartigen Internetnutzung bisher auf Gaming und Chat konzentriert, kommt die Sucht nach Cybersex erst langsam ins Gespräch. "Es ist noch nicht geklärt, ob es sich dabei um eine nicht-substanzgebundene Sucht, einen Zwang, oder eine gestörte Impulskontrolle handelt", berichtet Bonelli. Das Zögern der Wissenschaft sei jedoch auch damit verbunden, dass das Konzept der Sexsucht Tabus hinterfrage. "Viele glauben, Sex müsse immer gut tun und scheuen sich davor, den negativen Seiten ins Auge zu sehen", so der Wiener Psychotherapeut, Psychiater und Neurologe.

Die Wissenschaft sei in den letzten 100 Jahren missbraucht worden, um Moral und Sittlichkeit abzulösen. "Zuvor 'Sittenwidriges' erhielt damals das Mäntelchen der Krankheit." Spannend sei der Disput bis heute. "Obwohl es zurecht einen breiten gesellschaftlichen Konsens über die negative Bewertung der Pädophilie gibt, kann man diskutieren, ob es sich dabei um eine 'Krankheit' handelt. Ein Pädophiler hat ja vielleicht gar kein Problem mit seinem Verhalten", erklärt Bonelli. Entsprechend habe man heute Angst davor, zu viele Verhaltensweisen krank zu reden.

Weniger Sex im echten Leben

Wenngleich Internetsex per se nicht krankhaft sei, gibt es für Bonelli problematische Formen davon. Auf der Fachtagung werden diese soweit thematisiert, als sie bei Betroffenen Leiden oder Nachteile hervorrufen. "Dazu gehört einerseits das zwanghafte Handeln gegen den eigenen Willen, jedoch auch das Abnehmen des realen Sex und der Beziehungsfähigkeit. Denn bei der Internet-Sexsucht geht es definitiv nicht mehr um die Beziehung zum 'Du', sondern allein um die eigene Befriedigung", so der Psychotherapeut.

Das Thema ist eng mit der Geschlechterperspektive verknüpft, betrifft doch die Internet-Sexsucht fast ausschließlich Männer. "Männer sind visueller orientiert und reagieren viel mehr auf Körperformen, während Frauen eher Berührung, Zärtlichkeit und Romantik suchen", erklärt der Experte. Frauen könnten vom Cybersex-Konsum des Partners wie auch von den Darstellungen viel leichter verletzt werden. "Sie vergleichen die idealisierten, digital verbesserten Körperdarstellungen eher mit dem eigenen Körper und leiden darunter, ebenso wie sie auch ihr Reduziert-werden auf seelenlose, sexuelle Attribute belastet."

Artikel vom 22. April 2010

 

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