Psychisch Kranke flüchten ins Internet

Immer mehr psychisch kranke Menschen suchen Zuflucht im Internet. Wie eine aktuelle Studie des Experten Bert te Wildt von der Medizinischen Hochschule Hannover zeigt, werden Depressionen häufig mit Online-Spielen ausgeglichen. Speziell bei jungen Männern sind psychische Dispositionen oftmals der Grund dafür, dass sie sich extrem in die virtuelle Welt zurückziehen. "Natürlich sind auch Frauen betroffen und Personen älterer Generationen, im Zuge unserer Studie haben sich aber tatsächlich zu drei Vierteln betroffene Männer gemeldet", erklärt Inken Putzig, Co-Autorin der Untersuchung, im Gespräch mit pressetext.

Insgesamt wurden 23 Probanden unter die Lupe genommen, die kontinuierlich mehr als sechs Stunden pro Tag im Internet verbringen. 80 Prozent wiesen eine deutliche Depression auf, der Rest zeigte Merkmale von Angst- und Persönlichkeitsstörung. "Das Ausschlaggebende an der Realitätsflucht ins Web ist die Möglichkeit, eine neue Identität anzunehmen", sagt Putzig. Es würden zwar häufig auch aggressive Games zur Kompensierung der Depressionen genutzt, der wichtigste Aspekt liege aber auf so genannten Online-Rollenspielen. Über 50 Prozent der Betroffenen nutzen solche Games, um neue Persönlichkeiten aufzubauen, sich beispielsweise als Held darzustellen oder das Geschlecht zu wechseln. "Was in der Realität für den Erkrankten nicht möglich ist, lässt sich innerhalb der virtuellen Welt leicht umsetzen", so Putzig.

Etwa 30 Prozent der Patienten greifen auf Ego-Shooter zurück, um aus dem richtigen Leben zu entfliehen. Aber auch andere Defizite, wie etwa fehlende soziale Kontakte oder ein vermisstes Gruppengefühl geben den Ausschlag zur Internetsucht. Manche suchen sogar nach einer virtuellen Liebesbeziehung. Während sich viele Betroffene in der Realität oft als Versager fühlen und an Minderwertigkeitskomplexen leiden, die ihnen ein soziales Leben erschweren, fällt in der Online-Welt schnell die Hemmschwelle und das anonymisierte Umfeld erleichtert die Kontaktaufnahme zu anderen.

Natürlich sei klar zu differenzieren, wo ein üblicher Internetgebrauch, wie er heute weit verbreitet ist, aufhört und eine tatsächliche Sucht anfängt, meint Putzig. "Viele von uns verbringen täglich viele Stunden im Netz. Wichtig ist aber, welcher Zweck erfüllt wird. Es gilt zu hinterfragen, ob die Online-Aktivitäten praktischen Nutzen haben, etwa Zeit oder Wege ersparen, oder ob der Fluchtfaktor den Ausschlag gibt." Um Betroffenen aus ihrer Situation zu helfen, müsste man zunächst die Missstände in ihrem realen Leben aufarbeiten und beseitigen, um die Realität wieder attraktiver zu machen.

Artikel vom 22. November 2006

 

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